Phänomen Podemos – Politik und Gesellschaft im Wandel

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Sieben Jahre Wirtschaftskrise haben in Spanien ihre Spuren hinterlassen. Viele Spanier wünschen sich eine Veränderung in der Politiklandschaft. Korruptionsskandale und Austeritätspolitik haben das Vertrauen der Wähler in das Zweiparteiensystem erschüttert, jetzt möchten sie aktiv selbst entscheiden. All dies verspricht die neue Protestpartei Podemos und bietet eine neue Form von Politik. Bei der direkten Demokratie darf jeder mitbestimmen und was die Mehrheit beschließt, wird umgesetzt. In Madrid hat die Stadtverwaltung bereits die Politik an die Bedürfnisse und Forderungen der Bürger angepasst.

Das Wirtschaftswachstum in Spanien wächst kontinuierlich, lobpreisend blicken die anderen EU-Staaten auf das Land. Den wirtschaftlichen Erfolg verdanken die Spanier der mit harter Hand ausgeführten Austeritätspolitik. Doch dieser Gewinn ist eine zweiseitige Medaille. Besonders die Folgen der unternehmerorientierten Arbeitspolitik hat das Volk schwer getroffen. Nicht nur die hohe Arbeitslosigkeit, sondern auch der niedrig angesetzte Mindestlohn von 3,90 Euro schwächt die Spanier, bei ähnlichen Lebenserhaltungskosten wie in Deutschland. Daneben wächst die Wut auf die Politiker, die viel vom Volk fordern und sich im gleichen Atemzug die Taschen mit Geld voll stopfen. Die Korruptionsskandale nehmen auch in der Krise nicht ab.

Podemos in der Reportage des WDR: Ein Umdenken in den Köpfen




Was hat die Wirtschaftskrise mit den Menschen gemacht? Fragt Gitti Müller in einer Reportage des WDRs. Bewegend hat sie das Stimmungsbild und die Entwicklung der Menschen, hin zu einem größeren Bewusstsein der eigenen politischen Verantwortung und der großen Bedeutung des gemeinsamen Miteinanders nachgezeichnet. Dass aus einer Krise ein Umdenken in den Köpfen der Menschen entwachsen kann, zeigt sie schwungvoll in den Porträts ausgewählter Charaktere. Vom arbeitslosen Grafiker, der sein Geld als Upcycler auf Flohmärkten verdient und seine finanziellen Ängste in aktives politisches Engagement umwandelt. Über einen Lehrer, der städtische Grünflächen in Gemeinschaftsgärten verwandelt und den Traum vom Kapitalismus, indem jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, ausgeträumt hat und das Gut des Gemeinwesens nach außen transportiert. Eine Bankangestellte, deren Vertrauen in das Finanzsystem so sehr erschüttert ist, dass sie mitten in der Krise ihren Job hinwarf. Bis hin zum IT-Profi und Praktikanten der Madrider Stadtverwaltung, die lieber für kleines Geld die Idee der direkten Demokratie verfolgen. Einfühlsam und logisch wird in der Reportage der politische und gesellschaftliche Wandel, von der ersten Demonstrationswelle bis hin über die Entwicklung von Podemos und die Umsetzung in der Stadtverwaltung von Madrid aufgezeigt.

Demonstrationen für eine transparente, praxisbezogene und direkte Demokratie

Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der ausgeführten Austeritätspolitik gipfelte am 15. Mai 2011, eine Woche vor den Regional- und Kommunalwahlen. Die Massendemonstrationen an 58 Orten in Spanien gebar die Bürgerbewegung Movimiento M-15. Ihre Proteste richteten sich gegen den politischen Umgang mit der Krise, einen Weg, den sowohl die PSOE und PP verfolgten. Die Demonstranten sahen sich durch das Zweiparteiensystem, welches seit der Francodiktatur die Politiklandschaft gestaltete, in ihrer politischen Mitbestimmung eingeschränkt und forderten einen politischen und gesellschaftlichen Wandel hin zu einer transparenten, praxisbezogenen und direkten Demokratie. Die Masse der Demonstranten und ihre Wirkung auf die Politik gibt heute noch vielen Spaniern das Gefühl nicht alleine dazustehen und gemeinsam etwas verändern zu können. Die größte Veränderung findet dabei in der Gesellschaft statt, die nicht mehr untätig sein, sondern aktive Politik betreiben möchte.

Podemos, die Bürgerpartei

Diese Idee der gemeinschaftlichen, gleichberechtigten Gestaltung von politischen Themen, griff Podemos 2014 auf und wurde noch im Gründungsjahr mit Pablo Iglesias in das Europäische Parlament gewählt. Die Partei, welche sich nicht im gebräuchlichen Sinne einer Partei versteht, schaffte eine Plattform für politisch Interessierte. Interaktiv auf der Internetplattform Plaza Podemos als auch in Arbeits- und Themenkreisen können politische Vorschläge gestellt, gemeinsam ausgearbeitet und demokratisch entschieden werden. So ist das Parteiprogramm immer dynamisch und verwirklicht sich selbst durch die aktive Nutzung der Bürger. Mitglied muss man übrigens nicht sein, sondern sich lediglich über seine Personalausweisnummer anmelden. Über 350.000 haben sich bereits registriert und wirken fleißig mit. Parteibücher oder Beiträge gibt es bei Podemos nicht. Die Finanzierung funktioniert auch ohne die großen Banken, über Crowdfunding und Mikrokredite. Podemos vermittelt durch aktive Präsenz in den Medien und auf der Straße, dass jeder Politik machen kann und dies auch soll. Denn kein Politiker oder keine Partei kann den Bürger so gut vertreten wie der Bürger selbst. Politik als Freizeitaktivität? Das wird seit den Kommunal- und Regionalwahlen 2015 in Madrid schon umgesetzt.

Gelebte Demokratie in Madrid

Manuela Carmena, ehemalige Richterin, Menschenrechtsaktivistin und aktive Gegnerin des Francoregimes in den 70ern, ist die neu gewählte Bürgermeisterin von Madrid. Unterstützt wurde sie von Podemos, die im Stadtrat über den Bündnispartner Ahora Madrid Einfluss haben. Ihre erste Amtshandlung war der Austausch des prunkvollen Bürgermeisterbüros mit einem kleineren und die Kürzung ihres eigenen Gehalts. In der spanischen Politik eine Sensation und ein Statement zugleich. Für Carmena ist neben der Transparenz eins ganz wichtig, Kollektive Intelligenz. Für sie reicht repräsentative Demokratie nicht mehr aus. Die Komplexität und Dynamik des Lebens schreit geradezu nach einer Beteiligung der Zivilgesellschaft. Ihr Verständnis von Kollektiver Intelligenz basiert auf dem vernetzten Wissen des Einzelnen. Entgegengesetzt der Meinung, das Volk sei nicht in der Lage wichtige Entscheidungen zu treffen. Mit ihrer bürgernahen Politik kommt Carmena sehr gut bei der Bevölkerung an. Auf der städtischen Homepage kann jeder Bürger von Madrid Vorschläge zur Verbesserung aller Art einreichen, sofern diese gesetzmäßig sind und die Menschenrechte wahren. Werden die Vorschläge von 2 Prozent der Stimmberechtigten unterstützt, das sind 55.000 Bürger, so wird über die Möglichkeit eines Referendums und die Umsetzung der entsprechenden Maßnahmen entschieden. Und die Bevölkerung nimmt dieses Angebot dankend an und gestaltet ein sozialeres Madrid. Bereits umgesetzt wurden Wohnungsmöglichkeiten mit Minimieten für 600 Alleinerziehende und 200 junge Leute. Ein vereinfachtes Tarifsystem macht das Bahnfahren attraktiver und verleitet dazu, das Auto stehen zu lassen. So soll das Klima- und Umweltbewusstsein mit autofreien Sonntagen und mehr Fußgängerzonen umgesetzt werden. Das Volk entscheidet und es entscheidet ganz bewusst und gut durchdacht mit Hilfe eines jeden. „Politik, das bin ich selbst, das sind wir alle“, ein neues Gefühl in Spanien, welches Früchte trägt.

Hier gehts direkt zur Reportage von Gitti Müller aus der Mediathek des WDR.

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