Estefanía erwartet nicht, dass man sich die Tragik ihrer venezolanischen Heimat in Deutschland oder sonstwo in Europa ausmalen kann. Ihr Blick ist zugleich traurig und verärgert. Ihre Worte aber sprechen Bände: «Egal, ob du reich oder arm bist: Die Krise schlägt dir dort jeden Tag brutal ins Gesicht.»
Vor gut neun Monaten hatte die 25-Jährige es endgültig satt: die Lebensmittel-, Medikamenten- und Wasser-Knappheit, die ausufernde Kriminalität, die Behördenwillkür, die Stromausfälle und die oft kilometerlangen Schlangen vor den Läden. Sie holte sich ein Studentenvisum und stieg ins Flugzeug nach Spanien. Schweren Herzens ließ sie ihre Eltern zurück. «Ich war im Freundeskreis eine der letzten, die die Koffer gepackt hat», erzählt sie in Madrid der Deutschen Presse-Agentur.
Wenn in Europa über Migranten gesprochen wird, ist von Menschen wie Estefanía selten die Rede. Dabei betrifft die aktuelle Lage in dem südamerikanischen Krisenstaat auch Europa. Die Zahl der Venezolaner, die in einem der 28 EU-Staaten, in der Schweiz, in Liechtenstein, Norwegen oder Island Asyl beantragten, hat sich 2018 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt, wie aus Daten der EU-Asylagentur Easo hervorgeht. Demnach waren es rund 22 200. Und die Tendenz ist weiter steigend. In diesem Jahr waren es allein von Januar bis Mai rund 18 400, wie aus einem am Montag vorgestellten Easo-Bericht hervorgeht.
Die Anzahl der Venezolaner, die sich auf den Weg nach Europa machen, steigt schon länger. Im Januar 2015 waren es nur 25 Menschen, die erstmals einen Asylantrag stellten. Im Mai 2019 rund 4000. Woran liegt das? Und wie groß ist die Last für Europa?
Venezuela leidet unter einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise. Rund 4 Millionen der 31 Millionen Venezolaner haben deshalb das Land verlassen. Allein seit November vergangenen Jahres kehrten nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerk eine Million Venezolaner ihrer Heimat den Rücken. Am stärkten betroffen vom Zuzug sind die Länder der Region. Rund 1,3 Millionen Venezolaner haben sich in Kolumbien niedergelassen, Peru hat rund 768 000 Menschen aufgenommen. In Chile, Ecuador, Brasilien und Argentinien leben je Hunderttausende Venezolaner. Die Zahlen in Europa steigen zwar – aber die wenigsten Venezolaner kommen tatsächlich hierher.
«Die Situation ist für Venezuela und Südamerika alarmierend», sagt Catherine Woollard von der Nichtregierungsorganisation Europäischer Rat für Flüchtlinge und Vertriebene. «Auf Europa wirkt sich die Situation nur geringfügig aus. Aber es besteht das Risiko, dass politische Panik entsteht.» Woolard warnt vor unnötiger Besorgnis. Im vergangenen Jahr hätten Venezolaner nur 4 Prozent der Asylsuchenden in der EU ausgemacht.
Das einst reiche Venezuela leidet unter einer schweren Versorgungskrise. Aus Mangel an Devisen kann das Land mit den größten Ölreserven der Welt kaum noch Lebensmittel, Medikamente und Dinge des täglichen Bedarfs einführen. Die Gesundheitsversorgung ist weitgehend zusammengebrochen, immer wieder kommt es zu langen Stromausfällen, Krankheiten breiten sich aus.
Gelähmt wird Venezuela zudem von dem erbitterten Machtkampf zwischen Staatschef Nicolás Maduro und dem selbst ernannten Interimspräsidenten Juan Guaidó. Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht.
Woolard fordert deshalb, die EU solle sich darauf konzentrieren, die politische und wirtschaftliche Situation vor Ort zu stabilisieren. Außerdem solle Schutzsuchenden Asyl gewährt werden.
In Spanien erhalten derweil nur die wenigsten Venezolaner Asyl und damit ein Bleiberecht. Nur einer Minderheit, rund 400, wurde «aus humanitären Gründen» Schutz und Aufenthaltsgenehmigung gewährt. Estefanía will keinen Asylantrag stellen – obwohl ihr Visum Ende Juni abläuft. Die Journalistin aus der venezolanischen Industrie-Metropole Valencia will es zunächst über eine Verlängerung des Visums versuchen und längerfristig in ihrem Beruf Fuß fassen. Eine Rückkehr nach Venezuela ist so schnell keine Option. Obwohl sie die Heimat und vor allem ihre Eltern vermisst. «Meine Angst um sie ist irre.» Wenn Estefanía am Ende doch nicht in Spanien bleiben darf, will sie es in Südamerika versuchen.
Estefanía trifft in Madrid viele Landsleute. Immer mehr. Denn in Europa ist es vor allem Spanein, dass die Folgen der Venezuela-Krise zu spüren bekommt. In den ersten drei Monaten 2019 wurden hier 90 Prozent der Anträge gestellt. In Deutschland nur 1,5.
Das hat gute Gründe, die gemeinsame Sprache ist entscheidend. Viele Venezolaner, die nach Spanien fliehen, haben auch und vor allem Pässe aus Portugal und Italien. Oder gar keinen EU-Pass. Die sind am schlimmsten dran. Sie leben mit der Ungewissheit. Aber wenn Estefanía sich etwa an Erzählungen von Kommilitonen erinnert, die in der Heimat aus ihren Schlafräumen verschleppt und tagelang gefoltert wurden – und das mutmaßlich nur, weil sie gegen die Regierung sind – dann weiß sie: Sie hat die richtige Entscheidung getroffen.
Eine öffentliche Debatte über die Zunahme der Einwanderung aus Venezuela gibt es in Spanien nicht. Noch nicht, muss man vielleicht sagen. Bisher war nämlich nur die Elite des Karibik-Landes nach Spanien geflohen, die sich schnell und problemlos integrierte. Dann kamen immer mehr Vertreter der schnell schrumpfenden Mittelklasse, wie Estefanía, die von ihren Eltern finanziell unterstützt wird.
Seit Monaten kommen nach Medienberichten aber immer mehr nahezu mittellose Venezolaner ins Land. Menschen wie Andrés. Der 28-Jährige ließ in Caracas Frau und zwei kleine Kinder zurück. Er hat Asyl beantragt, arbeitet illegal im einem Vorort Madrids, wohnt in einer Emigranten-WG mit sieben anderen und spart sich das Essen vom Mund ab. Möglichst viel Geld schickt er in die Heimat. «Ich heule jede Nacht», sagt er der Deutschen Presse-Agentur. (dpa – Von Michel Winde, Emilio Rappold und Denis Düttmann)